Abends liege ich im Bett und denke zurück an diesen Tag. Nicht an das Meeting am Vormittag, nicht an die E-Mails, die ich beantwortet habe oder die Entscheidung, die ich getroffen habe. Nein – ich denke an die kleinen Momente: das leise Atmen meines Sohnes in der Mittagspause, als er auf dem Sofa eingeschlafen war. Oder an sein Strahlen, als ich ihm einfach noch eine Geschichte vorgelesen habe, obwohl wir beide müde waren. Diese Augenblicke, die kaum jemand sieht, aber in mir etwas verändern. Und oft frage ich mich: Was bleibt von diesem Tag, wenn ich nicht in endlangem Rückblick durch To‑Do‑Listen wische, sondern in Herzspeicher scrolle? Was bleibt von mir, wenn ich nicht als Leistungsmensch in Erinnerung bleiben will, sondern als Vater, der präsent war?
Ich erinnere mich an diesen Nachmittag neulich, als ich nur fünf Minuten Luft zum Durchatmen hatte – in einem unfertigen Übergang zwischen Arbeit und Familienzeit. Statt ins Unbestimmte zu starten, nahm ich mir einen Moment, stellte das Handy weg, ging in sein Zimmer und nahm ihn auf den Arm. Kein großer Plan – einfach Da‑sein. Er kuschelte sich an mich, ich spürte seinen Pulsschlag, roch sein Haar und wusste: Das ist es. Nicht der perfekte Ausflug oder die teure Unternehmung. Sondern eine Minute, in der wir einfach waren. Und diese Minute wurde zu einem sichtbaren Anker in mir. Irgendwo zwischen Mixtopf und Abendruhe. Ein Anker, an dem ich entlangseielen kann, wenn alles mal stressig wird.
Ich weiß, es sind die kleinen Dinge, weil sie sich kaum messen lassen. Es ist der Flossenschwung im Badewasser, den keiner sieht, wenn ich ihm das Wasser einlasse. Oder die zwei Brote, die ich ihm geschnitten habe – nicht thematisch erwähnenswert, aber ich erinnere mich an das (nicht perfekt gleiche) Schnittmuster. Oder die Nacht, als ich aufstand, weil er kaum atmete, und ich ihn ganz sanft at die Brust brachte – diese Stille im Haus, die ich spürte. Ich spürte uns. Noch mal. Ich spürte, dass wir atmen. Und ich spüre, wie ich dadurch selbst nochmal atme.
Diese Dinge sind wie winzige Samen, die im Boden meiner Erinnerung keimen. Sie wachsen nicht sofort sichtbar. Sie warten. Bis eines Tages, wenn alles anders wird, eine Erinnerung an ein Kuscheltier oder einen Geruch mich zu dem Tag zurückholt. Und plötzlich ist er wieder da. Kein Meeting. Kein Ergebnis. Sondern sein Lachen bei Muttertagstext, sein Murmeln im Schlaf, sein Kichern beim Schminken mit Mama. Von außen unbedeutend – für mich aber unendlich wertvoll.
Im Alltag ist es schwer, diese unbeachteten Momente hinzubekommen. Die Arbeit drückt, das Mittagessen muss gemacht werden, der Abwasch wartet, das nächste Programm – und wir jagen weiter. Und dann bin ich doch erschöpft, wenn der Abend kommt. Aber ich habe mir angewöhnt, mir die kleinen Dinger bewusst zu suchen. Nicht mit Zwang, nicht mit Druck. Sondern lass es freundlich entstehen. „Guck‘ mal, hör kurz hin.“ Ich setze mich zu ihm an den Basteltisch, streichle seinen Arm, lache über seine Witze – oder sag einfach nur: „Schön, dass du das bist.“
Und ich merke: Es gleicht mich aus. Fast wie ein Kalendermoment, den man seinen Lieblingsmenschen zeigt. Nur dass ich das nicht fotografiere – ich speichere das für mich. Das ist kein Social-Media-Highlight. Aber mein emotionaler Screenshot. Meine Erinnerung an mich selbst. Weil ich Vater bin.
Es gibt Tage, da ist nichts großartig. Der Pizzakarton bleibt eine Woche offen, der Spielzeugwagen liegt im Flur, ich vergesse, was ich ihm einst versprochen habe. Aber manchmal reicht ein Blick. Wenn ich in sein Zimmer komme und sehe, wie er den Plüschhund beiseitegelegt hat, um mir Platz zu machen, dann habe ich das Gefühl: Das ist unser Tag gewesen. Oder ich Frühstückte mit ihm und er nahm unauffällig meine Hand. Dann spüre ich: Heute habe ich ihm Nähe gegeben – und er mir. Wieviel mehr will man?
In Gesprächen mit Vaterfreunden kommt das Thema auch oft auf. Wir stellen fest, dass wir uns an die großen Erlebnisse sogar kaum erinnern. Dafür an den Geruch von Salat, das Märchenbuch unter der Bettdecke beim Schlafen, sein „Papa passt auf mich auf“ bevor er einschläft. Und genau das ist es: Das Kleinteilige speichert sich viel mehr ab als das Offensichtliche. Es ist wenig, aber viel. Es ist klein, aber bedeutend. Und irgendwann bleibt mehr davon als Schilder einer Reise.
Ich beobachte mich abends auch dabei, wie ich diese Gedanken in meinen Journal-Apps oder in lose Blätter notiere. Weniger Dramatik – nur so: „Heute hat er sich an mich gekuschelt, an dem Tag, als ich müde war.“ Oder: „Heute habe ich seine Autoreifen sauber gemacht, weil er das Auto so liebte.“ Kurze Sätze. Keine großen Geschichten. Aber irgendwie berichten sie doch mehr, als ich dachte. Auch wenn niemand sie liest – sie tragen mich. Sie tragen uns.
Manchmal frage ich mich: Was werde ich in 20 Jahren vermissen? Wird es das gemeinsame Basteln sein? Oder wird es mehr das Fühlen dieser kleinen Pausen? Ich glaube eher Letzteres. Ich glaube, wir werden sehnen nach Atemräumen, nach Nähe, nach der Ruhe, die im Chaos liegt. Und genau dafür schaffen wir die Basis jetzt – mit diesen Kleinigkeiten. Und sie zahlen sich aus, wenn der Alltag uns überholt. Dann blättere ich durch meine Erinnerungen – und bleibe hängen bei diesen fast unscheinbaren Momenten, die wieder und wieder auftauchen.
Denn ein Tag ist erst vorbei, wenn er Erinnerung geworden ist. Und erst dann zeigen sich die Wege, die wir unbeabsichtigt genommen haben. Einen Tag später denken wir vielleicht: Ich hab so viel nicht gemacht. Aber abends denkt man: Doch – das Lachen, das Kuscheltelefon, das stille Zuhören – das bleibt. Und da war ich. Da waren wir. Und das zählt. Weil wir geliebt haben, nicht weil wir etwas geschafft haben. Und weil wir heute gelebt haben, nicht weil wir geleistet haben.