Es gibt Tage, da fühle ich mich, als würde ich mich selbst verschenken. Nicht aus Gier oder Furcht, sondern aus Liebe. Die Familie, meine Partnerin, mein Sohn – sie sind mir alles. Und ich möchte ihnen alles geben: Zeit, Sicherheit, Zuneigung, materielle Dinge, Zukunft. Also arbeite ich – und arbeite – und arbeite. Und zwischendurch ist da dieses Gefühl: Ohne mich bricht etwas auseinander. Und gleichzeitig: Ich spüre mich weniger. Ich spüre, wie dieser innere Feuerball tagelang lodert – obwohl ich ihn längst habe, er sich selbst vergessen hat.
I
Es war ein sonniger Vormittag, einer dieser Tage, an denen das Licht weich ist und man schon beim Aufstehen spürt: Heute wird etwas passieren. Mein Sohn stand im Flur, die Schuhe schon halb an, den Helm schief auf dem Kopf. Daneben das Laufrad, das er zum Geburtstag bekommen hatte und bisher nur vorsichtig im Wohnzimmer bewegt hatte – kleine, unsichere Schritte, immer nah an der Couch, falls das Gleichgewicht nicht halten wollte. Aber heute war anders. Heute wollte er raus. Heute sollte es der erste „richtige“ Ausflug werden.
Ich gebe zu, ich war aufgeregt. Nicht, weil ich befürchtete, dass er hinfällt – das gehört dazu –, sondern weil ich wusste: Das wird einer dieser Meilensteine. Ein kleines Stück mehr Freiheit für ihn, und ein kleines Stück Loslassen für mich. Wir standen vor der Haustür, ich kniete mich zu ihm runter, sah in seine Augen und fragte: „Bist du bereit?“ Er nickte ernst, als würde er gleich an einem Rennen teilnehmen. Und dann schob er sich ab.
Die ersten Meter waren noch wackelig. Die Füße tippten unsicher auf den Asphalt, der Oberkörper leicht nach vorne geneigt, die Hände klammerten am Lenker. Ich ging neben ihm her, die Hand halb ausgestreckt, bereit, im Notfall zu greifen – aber er brauchte mich nicht. Er hielt sich, konzentriert, mit diesem Blick, den Kinder haben, wenn sie etwas Neues lernen: ganz bei der Sache, fast schon erwachsen ernst.
Wir bogen in die kleine Straße ein, die zum Park führt. Ich spürte, wie mein Schritt schneller wurde, um mit ihm mitzuhalten. Und er? Er fing an zu lachen. Laut, frei, mit einer Spur Überraschung in der Stimme, als würde er selbst erst jetzt merken, dass er fährt. Wirklich fährt. Kein Sofa, kein Teppich – Asphalt unter den Rädern, Wind im Gesicht.
Im Park angekommen passierte etwas, das ich so nicht erwartet hatte: Er stoppte, stieg ab, schaute sich um und sagte: „Papa, guck mal, schnell!“ Und dann lief er los – nicht langsam, nicht vorsichtig, sondern mit richtigem Schwung. Ich lief hinterher, und zum ersten Mal merkte ich, wie dieses kleine Rad ihn weiter brachte, als er zu Fuß je gekommen wäre. Er entdeckte neue Ecken, fuhr kleine Hügel hoch, testete, wie schnell er werden konnte, und rief immer wieder: „Noch mal!“.
Ich beobachtete ihn und merkte, wie sich in mir etwas rührte. Dieses Gefühl, das irgendwo zwischen Stolz, Rührung und ein bisschen Wehmut liegt. Stolz, weil er mutig war. Rührung, weil ich ihn so frei und gleichzeitig noch so klein sah. Und Wehmut, weil jeder neue Schritt, jedes neue Können ihn ein kleines Stück unabhängiger macht.
Zwischendurch fiel er natürlich auch. Ein kleiner Rutscher über Kies, ein abruptes Stoppen, bei dem er fast nach vorne kippte. Jedes Mal hielt ich kurz den Atem an – und jedes Mal stand er einfach wieder auf, setzte sich wieder rauf, fuhr weiter. Kein Jammern, kein Aufgeben. Ich wünschte, ich könnte mir selbst diese Selbstverständlichkeit öfter abschauen.
Wir machten Pausen, setzten uns auf die Wiese. Er trank seinen Apfelsaft aus der Trinkflasche, ich meinen Kaffee aus dem Thermobecher. Neben uns lag das Laufrad, das im Sonnenlicht glänzte, als hätte es gerade selbst einen großen Moment erlebt. Ich dachte darüber nach, wie oft wir als Eltern glauben, wir würden die Kinder anleiten – und wie oft sie uns eigentlich zeigen, wie es geht. Losfahren, auch wenn man nicht weiß, ob man perfekt ist. Fallen, ohne Drama. Weiterfahren, weil es Spaß macht.
Der Rückweg war schneller. Viel schneller. Er hatte jetzt Sicherheit, mehr Schwung, sogar so etwas wie eine kleine Technik entwickelt: erst rollen lassen, dann mit beiden Füßen gleichzeitig abstoßen. Ich musste joggen, um mitzuhalten. Immer wieder drehte er sich um, grinste und rief: „Papa! Schnell!“ – und ich dachte: Das wird nicht das letzte Mal sein, dass ich mich beeilen muss, um mit ihm mitzuhalten.
Zu Hause angekommen, stellte er das Laufrad in den Flur, lehnte es vorsichtig an die Wand, als wüsste er, dass es etwas Besonderes war, was wir da gerade gemacht hatten. Er setzte sich, zog den Helm aus und sagte nur: „Nochmal morgen.“ Und ich wusste: Ja. Morgen. Übermorgen. Immer wieder.
Es war nur ein Ausflug mit einem kleinen Rad ohne Pedale. Aber in meinem Kopf und Herzen war es viel mehr. Es war der Moment, in dem er ein Stück eigener Wegstrecke gefunden hat. Der Moment, in dem ich ihn fahren ließ – und er fuhr. Und es war der Moment, in dem ich begriff: Diese kleinen Schritte in Richtung Unabhängigkeit sind das Herzstück des Vaterseins. Wir halten fest, so lange wir müssen – und lassen los, sobald wir können. Und manchmal tun wir beides gleichzeitig.