Es beginnt auf dem Spielplatz.
Ein einfacher Nachmittag, wie viele davor. Mein Sohn, zwei Jahre alt, stapft zielstrebig zum Klettergerüst. Ich, die Jacke noch halb offen, der Kaffee noch zu heiss, gehe ihm hinterher. Und dann sehe ich es: Er steht vor der Leiter. Diese steile, wacklige Leiter, die zu einem Turm führt, der in meiner Papa-Vorstellung etwa so hoch ist wie ein Kirchturm.
Er will rauf. Ohne Hilfe.
Und ich merke, wie es in mir zu arbeiten beginnt. Alles in mir schreit: NEIN! Nicht weil ich ihm nichts zutraue – sondern weil ich plötzlich dieses fiese Kopfkino habe. Was, wenn er abrutscht? Was, wenn er sich weh tut? Was, wenn ich danebenstehe und es nicht verhindere?
Willkommen in der Königsdisziplin des Elternseins: loslassen lernen.
Vertrauen ist kein Gefühl – es ist eine Entscheidung
Mein Kind will die Welt entdecken. Nicht langsam, nicht vorsichtig – sondern mit beiden Händen, auf allen Vieren, im Zweifel auch kopfüber. Und ich? Ich will ihn beschützen. Das ist tief in mir drin. Es ist ein Reflex. Ein Impuls, der sich nicht einfach abschalten lässt.
Aber genau da beginnt mein Lernprozess. Ich muss nicht bei jedem Schritt eingreifen. Nicht jede potenzielle Gefahr abpuffern. Nicht jedes Risiko vorab eliminieren.
Denn wenn ich ehrlich bin: Ich will ja, dass er mutig ist. Selbstständig. Entdecker. Forscher. Ein Kind, das klettert, läuft, ausprobiert – und dabei Fehler machen darf.
Nur merke ich: Das ist leichter gesagt als getan.
Die Balance zwischen „Aufpassen“ und „Einmischen“
Ich stehe also am Spielplatzrand. Beobachte. Bereit einzugreifen, aber mit verschränkten Armen – auch, um mir selbst das Eingreifen schwerer zu machen. Ich sehe, wie mein Sohn sich langsam die Leiter hochhangelt. Wie er zögert, sich umdreht, mich sucht.
Ich nicke. Sage nichts. Aber mein Blick sagt: „Du kannst das.“
Er geht weiter. Schritt für Schritt. Und ich weiss: Das ist sein Moment. Nicht meiner.
Das klingt vielleicht übertrieben, aber für mich war das wie ein kleiner Meilenstein – weniger für ihn als für mich. Ich habe ihm vertraut. Und ich habe mich zurückgenommen. Nicht weil es mir leicht fiel, sondern weil ich wusste: Nur so kann er wachsen.
Er wird hinfallen. Und das ist gut so.
Es passiert früher oder später. Nicht unbedingt auf dieser Leiter. Vielleicht auf dem Laufrad, beim Rennen, auf dem Sofa oder beim Springen vom Sofa – je nach Tagesform. Er fällt. Und es tut weh. Und er weint.
Und ich bin da. Nicht als Schild, sondern als Stütze. Ich tröste, ich puste, ich bin da. Aber ich sage nicht mehr: „Siehst du, Papa hat’s doch gesagt.“ Ich sage: „Das war mutig.“ Und: „Du hast’s probiert.“
Denn genau darum geht’s doch: Kinder brauchen nicht perfekte Bedingungen, sondern stabile Begleitung. Ich muss ihm nicht jede Erfahrung abnehmen – ich muss ihn begleiten, wenn er sie macht. Auch die unangenehmen. Auch die, bei denen ich lieber den Reset-Knopf drücken würde.
Warum Loslassen nicht Verlust bedeutet
Ich habe oft gedacht, dass Loslassen bedeutet, etwas herzugeben. Aber das stimmt nicht. Loslassen bedeutet nicht, dass ich ihn weniger liebe – sondern dass ich ihm mehr zutraue.
Es bedeutet, dass ich ihm Raum gebe. Raum für eigene Entscheidungen. Für eigene Fehler. Für eigene Erfolge.
Es bedeutet, dass ich ihm zutraue, selbst Lösungen zu finden – auch wenn sie anders aussehen als meine. Dass er seinen eigenen Weg geht – auch wenn der manchmal länger, umständlicher oder schmutziger ist.
Und es bedeutet, dass ich mich selbst nicht immer als Rettungsschirm begreifen muss. Ich bin nicht der Dirigent seiner Kindheit. Ich bin der Zuschauer mit Tränen in den Augen, wenn er auf der Bühne steht – und der, der mit ihm hinter der Bühne lacht, wenn’s mal nicht geklappt hat.
Kleine Schritte – grosse Wirkung
Ich lerne also loszulassen. Schritt für Schritt.
Ich halte die Schaukel nicht mehr fest, wenn er anschubst. Ich warte ab, wenn er die Rutsche runterzögert. Ich lasse ihn selbst entscheiden, ob er barfuss laufen will. Und ich sehe zu, wie er über Wurzeln stolpert, sich fängt – und stolz wie ein König weitermarschiert.
Diese kleinen Momente sind es, in denen ich begreife: Das ist kein Kontrollverlust. Das ist Erziehung auf Augenhöhe. Das ist Liebe, die Freiheit zulässt.
Und manchmal, wenn er dann zurückkommt, mir den Arm um den Hals legt und sagt: „Papa, ich bin gross!“ – dann weiss ich: Ja. Bist du. Und ich wachse gerade mit dir mit.
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